Unter dem Titel „Sei nicht so sensibel!“ erschienen in No More Bullshit – Das Handbuch gegen sexistische Stammtischweisheiten

Von Christoph May

Wo der rüde Volksmund kläfft, wird “sei nicht so sensibel” schnell zu “nicht so emotional, naiv und hysterisch“ oder “kein Mädchen, keine Mimose, kein Warmduscher”. Wir sollen nichts “persönlich nehmen” und uns “die Tränen wegwischen”, denn “du musst jetzt stark sein” und “darfst dir nichts anmerken lassen”.

Dauerbrenner wie “halt die Ohren steif und beiß die Zähne zusammen“ untermalen die Klassiker “ein Junge weint nicht und ein Indianer kennt keinen Schmerz, denn was ein richtiger Mann ist, der lässt sich ein paar Eier wachsen.“ Kurz gesagt: “Schlampe, Lauch” oder “Schwuchtel“ werden final gern mit einem saftigen “Opfer!” serviert. – “Alles halb so wild”?

„The Pain let’s you know you’re still alive.“ Wolverine / X-Men

Ob Mann, Frau oder LGBIT*, seid jetzt bitte so sensibel wie möglich und checkt zunächst mal euren eigenen Floskel-Gospel. Denn es geht um sehr viel mehr als nur kleine und große Demütigungen. In Wahrheit wird hier mit jedem weiteren unbedachten Spruch eine männlich dominierte Abwehrhaltung verteidigt und kultiviert: Vernunft, Verstand, Theorie und Norm versus Gefühl, Intuition, Empfindung und Affekt.

“Du Opfer!“ ist gleichbedeutend mit “Opfer deiner Gefühle”, “Zähne zusammenbeißen“ mit Schmerzverbot und “Bitch!“ mit Frauenhass. Die Spielarten von “kleines Sensibelchen“ stehen allesamt für Gefühlsabwehr und emotionale Sprachlosigkeit. Oder wie der Männertherapeut Björn Süfke resümiert: “Es heißt oft‚ Männer* können ihre Gefühle nicht ausdrücken, aber eigentlich ist es noch schlimmer. Sie wissen nicht einmal, wie sie Zugang zu ihren Gefühlen bekommen können.“

„I understand human emotions, although I do not feel them myself.“ David 8 / Prometheus

Familie und Gesellschaft sind im Sprüchedrücken sehr engagiert und effizient. Es wird den Boys in die Windel gewickelt und um die Ohren gehauen. Genauso unbewusst wie beim täglichen Phrasen mähen. Leichter Liebesentzug hier, deutlich weniger Körperkontakt dort. Jungs werden statistisch weniger gefühlsbetont angesprochen als Mädchen. Leistung statt Lust. Verdrängung statt Frust. Lieber Durchhalten, Durchziehen und Nachtreten als Innehalten, Rückzug und Nachgeben.

Später dann kommt der Kampf um emotionale Zuwendung in Gestalt von Supermännern zum Ausdruck, die unermüdlich Welt und Universum retten. Er zeigt sich im Abwehrspiel von Fussball-Göttern oder als Risiko-Investition von Business Punks. Vom herzlosen Männer*-Fetisch in Tech-Kulturen über den Combat- Mode der Gaming-Branche bis zur Faszination für Nerd-Stuff (Non Emotional Responding Dude). Traditionelles Hierarchie-, Bürokratie- und Anspruchsdenken ist unmittelbare Folge dieser emotionalen Vernachlässigung. Nicht durch die Mutter, nein, durch den Vater natürlich. Nur selten ist Mutti die Bestie, die Abwesenheit von Daddy hingegen legendär!

Nichts prägt unsere Gesellschaft so stark wie die unerfüllte Sehnsucht nach emotional integeren Vaterfiguren. Ferne Väter und der Leidensweg ihrer Söhne sind die Top-Stories der westlichen Kulturgeschichte. Von den Untaten des Herkules über das Martyrium Jesu Christi bis zu den Sternenkriegen von Skywalker. Der Weg zu den unerreichbaren und schwer beschäftigten Daddies im Olymp (Zeus), im Himmel (Gott) oder im Todesstern (Darth Vader) wird stets als unmenschlich und übermännlich inszeniert.

Wüchsen wir hingegen mit zugewandten und offenherzigen Vätern auf, könnten wir uns die Demütigung sparen. Lieber Emotions-Support statt Extrem-Sport. Bis auf Weiteres ist aber auch bei den künftigen Sohnemännern leider niemand zu Hause. Dafür müssen wir uns noch zwei, drei Generationen gedulden. Würden die männlichen Protagonisten in Film, Serien und Real Life ihr Flucht- und Abwehrverhalten nur für einen Moment hinterfragen, wäre schon viel geholfen.

Dominic Toretto ginge fast and furious in Elternzeit, um slow and calm sein Söhnchen großzuziehen. Hulk, der alte Froschkönig würde zum Kuschelmonster mutieren. Und Iron Man könnte endgültig seine verfluchte Helden- und Hobbykeller-Männlichkeit hinter sich lassen. Mit echtem Herzschlag in seiner Brust anstelle des blau leuchtenden Reaktorkerns. Ganz ohne Körperpanzer. Könnt ihr euch das vorstellen?

DoppelPanzer bei Iron Man / The Avengers

Apropos Körperpanzer (ein Begriff aus den Männerphantasien von Klaus Theweleit). Es erfordert hartes und kompromissloses Training, um nicht fortwährend von seinen Gefühlen überschwemmt, überwältigt und eben übermannt zu werden. Hypermaskuline Männerbilder in Filmen und Serien aber bestärken den künftigen Man of Steel live und in Echtzeit darin, niemals aufzugeben: Superheroes, Outlaws, Ex-Bullen und Killer-Maschinen – die ganze Palette der um sich schlagenden Testosteron-Prügel also. Sie geben unserem Bad Boy den nötigen Support, um die innere und äußere Boss-Transformation am Laufen zu halten.

Hintenrum jedoch wird er schleichend vergiftet. Denn die Darstellungen männlicher Körperpanzer vermitteln ihm zugleich sämtliche Charakteristika einer vergifteten Männlichkeit (Toxic Masculinity): Emotionale Distanz, Hyper-Konkurrenzdenken, Aggression, Bedrohung, Gewalt, sexuelle Objektivierung und Frauenjagd werden im Stahlwerk von Kino und Streaming-Diensten jeweils in packende und überladene Action-Stories gegossen. Von Herr der Ringe über Star Wars bis Game of Thrones. Traurig, aber wahr: 90 Prozent aller verfilmten Drehbücher weltweit werden von Männern* verfasst. Die großen Geschichten, die uns am meisten prägen, sind astreine Männerphantasien.

„Bring back life form. Priority One. All other priorities rescinded.“ Ash to Ripley / Alien

Die enorme Bilderflut fiktiver Männerwelten hat einen massiven Impact auf das gesellschaftliche Unterbewusstsein. Neben der breitbeinigen Überrepräsentation von Kampf- und Körperpanzern gibt es noch eine zweite, äußerst lästige und verbissene Darstellungsform: die Kreatur beziehungsweise das kreatürliche Innere der Männlichkeit. Hierzu zähle ich Zombies, Mutanten, Monster und Aliens. Eine Art Gewebe-Wucherung aus Knorpeln und Muskelfasern. Total verwachsen, oft schleimig und gelegentlich blind, aber immer blindwütig, ungezähmt, gierig und stumm.

Am bekanntesten sind jene Kreaturen mit eindeutig männlicher Gestalt wie Frankenstein, Gollum oder die Weißen Wanderer. Beim Xenomorph (Alien, 1979) erkennt ihr spätestens an der sabbernden Schnappzunge in seinem Penismaul, dass ihr es mit einem männlichen Begehren zu tun habt. Das nicht zu Ende geborene, nachtaktive Krüppeltier ist seit jeher Ausdruck des tief sitzenden Schmerzes emotional verarmter Männlichkeiten. Kreatur und Körperpanzer sind spezifisch männliche Bildsprachen. Achtet mal drauf, es lohnt sich! Denn wenn ihr diese Männerphantasien demaskieren und lesen lernt, könnt ihr live dabei zuschauen, wie traditionelle Männlichkeiten jahrein jahraus ums Überleben kämpfen.

Venom als Symbiont und Parasit = Toxic Masculinity

Die unzweideutigste Verkörperung von Toxic Masculinity tropft als zähschwarze Flüssigkeit und Dämon namens Venom auf seinen männlichen Wirt hinunter. Mit schmierigen Tentakeln und einer klebrigen Amphibienzunge zum Heraus- und Herumschleudern (Mansplaining). Diese “größte Bedrohung der Menschheit“ macht ihrem Namen alle Ehre: Venom bedeutet Gift, Gehässigkeit und Bosheit.

Der Wirt zu Venom: „Wenn du bleibst, wirst du ausschließlich böse Menschen verletzen!?“ Venom zu Wirt: “So wie ich das sehe, können wir machen, was immer wir wollen. Haben wir einen Deal?“ Männlichkeit wird hier als gewaltgeiler Besessenheits-Buddy inszeniert, mit dem Mann* sich freundlich arrangiert. Tagsüber Journalist, des Nachts schwer schizophren, emotional verkümmert und extrem tödlich. “Alles ist vergiftet!” (Jan Delay) Soviel zur toxischen Hauptrolle männlicher Selbstwahrnehmung.

Das pausenlose Bildfeuer, mit der Männerphantasien wie Venom die Realität anheizen, brennt sich durch Freundschaft und Beziehung. Frauen-, Genuss- und Lustfeindlichkeit deuten meist auf eine gehemmte, einseitige oder unsichere Sexualität hin. Bist du einfühlsam, zärtlich, hingebungsvoll und bereit, zu zerfließen? Oder nur ein porno-trainierter Sportficker?

Der Leidensdruck steigt oft parallel zum Leistungsdruck. Arbeitswut, Überforderung und Sucht führen zu Empathieverlust, Hatespeech, innerem Rückzug und Funkstille. Die Suizid-Rate bei Männern* ist dreimal höher als bei Frauen*. Laut Weltgesundheitsorganisation mancherorts sogar fünfmal so hoch. Auch den extremen und trotz ihrer Medienpräsenz extrem seltenen Amokläufen – fast ausschließlich von Männern* verübt – geht oft ein ohrenbetäubendes Schweigen voraus. Denn wer nicht spricht, verbricht.

„As a man, I’m flesh and blood. I can be ignored. I can be destroyed. But as a symbol – as a symbol, I can be incorruptible. I can be everlasting.“ Bruce Wayne / The Dark Knight

Und genau deshalb brauchen wir ein positives, selbstkritisches und feministisches Männerbild. Schaut mehr Filme von Frauen*, lest mehr Bücher von Frauen* und nehmt euch Frauen* zum Vorbild! Redet mit ihnen und nicht über sie, dann kommt ihr auch endlich auf neue Ideen. Das große Männer-Schweigen darf nicht durch noch größere Männer-Theorien übertönt werden.

Deutlich sinnvoller wären echte Anteilnahme und eine ausdifferenzierte Gefühlssprache. Gefühle sind keine Krankheit, also Schluss mit Verdrängung und Nullkommunikation. Könnten wir nicht per Gesetz eine emotionale Präsenz-Pflicht für alle einführen? Die Sensiblen unter uns nicht zur Vernunft rufen bitte, sondern ausgiebig feiern und hochleben lassen. Hört genau zu, nehmt sie ernst und lernt von ihnen. Sensibilität ist keine Schwäche, sondern eine enorme Stärke. Möge die Macht mit den Sensiblen sein!

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