20 Jahre Graffitimuseum

Streifzug 5: Kriegsspiele – Performance mit Anna Herms & Christoph May

VATR RETRO PLAYR – Auf dem Gelände der ehemaligen Kaserne der berittenen Armee in Berlin spüren wir den aufdringlichen Kriegsmetaphern von Graffiti nach
Fotos: Gruner&Graf

Christoph May, Detox Masculinity Institute: „Weil sich die extrem männlich dominierte Graffiti-Szene in Bezug auf Gleichstellung seit 40 Jahren nicht bewegt, wollen wir uns jetzt endlich bewegen und die Styles, Bomben und Tags aus den Wänden heraus tanzen, zum schwitzen bringen, ihnen wieder Leben einhauchen und so die männermonotonen Fantasielosigkeiten und Graffiti-Rituale demaskieren, transformieren, verschmieren.

Anna ist Bildhauerin, ich bin Männerforscher. Und ohne ein einziges Wort stellen wir die Teilnehmer:innen zunächst vor den Graffiti auf, bilden mit ihren Armen, Händen, Füßen, Köpfen, Körpern bis in die Fingerspitzen still die Buchstaben auf der Wand nach und kuratieren so eine Graffiti-Performance ganz ohne männliche Überrepräsentation, Gewaltspiele, Machtmissbrauch und Mansplaining.

Fotos: Gruner&Graf
Vier Dimensionen spätmoderner Männlichkeit: Gebrochenes Tanzen, Schnelles Sprechen, geheime Codes sprühen und rhythmische Sounds basteln. Foto: Dokument Press, 1980er Jahre

20 Personen etwa stehen gekrümmt und gestreckt, wenden sich ab, berühren die Wand, schauen erstaunt, enttäuscht oder verträumt, neugierig und verblüfft. Manche lachen die Graffiti aus, manche gähnen sie an, andere schauen in die Wolken, gelangweilt von Throw Ups, Chrom-Lettern, Namedropping. Hier versucht jemand, den kompletten Style zu verkörpern, dort werden einzelne Elemente imitiert; Sterne, Pfeile, Charakter. Gesichter und Gesten zeigen alles von Überraschung über Verständnis bis Entsetzen.

Wir sind zufrieden mit unserem Werk und stellen eine Boombox in die Mitte der schweigenden Skulpturen aus Freunden und Fremden. Volle Lautstärke. Play. Durch die Ausstellung fegt jetzt “Grace Kelly” des queeren Sängers Mika und wir tanzen, feiern, biegen uns und springen umher. Wir wollen die traditionellen Graffiti-Männlichkeiten, die wir darstellen, hier und jetzt aufbrechen, abschütteln, wegstampfen und zertanzen.

Fotos: Gruner&Graf

Väter und Töchter drehen sich im Kreis. Paare, Freund:innen, jung wie alt, pfeifen auf das Patriarchat, auf traditionelle Rollenbilder und auf den urbanen Raum, der ja nicht nur architektonisch, sondern auch wirtschaftlich und politisch immer ein männlicher war. Und gemeinsam feiern wir in eine genderfluide Spätmoderne hinein und hinaus aus den männerbündischen Monokulturen, in denen wir alle sozialisiert wurden.

Mit Anna zu arbeiten, ist mir das größte Vergnügen. Und dem Trio vom Graffitimuseum bin ich erneut dankbar für Ihre Offenheit und Kritikfähigkeit. Später kommen wir am Feuer zusammen, löffeln Akims heiße Suppe und reden noch viel und kritisch über Männlichkeit, Graffiti und neue Ideen, neue Perspektiven. Denn Männer-Graffiti gehört ins Männer-Museum. Die Stadt gehört uns allen.“

Fotos: Gruner&Graf

Anna Herms, Bildhauerin: „Wir sind in die Abteilung Kriegsspiele eingesetzt. Krieg: ja. Spiele: auf jeden Fall. Aber Graffiti? Well.. Als Männerforscher fällt Christoph dazu natürlich als erstes ein, dass es im Graffiti von Männerbünden wimmelt. Ich habe Christoph so verstanden, dass die über ihre Gefühle zu sprechen unfähigen jungen Männer in dieser Subkultur einen Ausdruck für das ihnen selbst unverständliche Knäuel ihrer Gefühlswelten finden (können). Was doch vielleicht schön ist, aber – so die Kritik- , dass sie sich darüber hinaus nicht befähigen, sich zu artikulieren oder über ihre Gefühle zu sprechen. 

Fotos: Gruner&Graf

Vielleicht muss man nicht Theweleits „Männerphantasien“ aus den 1970er Jahren, (das aktuell viele Lesegruppen wiederentdecken) gelesen haben, um zu verstehen, wie die Schwarze Pädagogik, der Krieg, die Gewalt die Körperpanzer der Menschen, speziell der Männer hart und ihre Sprache wortkarg gemacht haben, und wie die Unsicherheiten, die daraus erwachsen sind, toxische Verhaltensweisen hervorgebracht haben. Wie man die durch Unsicherheiten entstandenen Körperpanzer und Gefühlsknäuel, die sich in geheimen oder offen ausgetragenen Strukturen männerbündeln, kaputtkriegt, ist etwas womit Christoph seit etwa sieben Jahren beschäftigt, noch bevor es in Mode kam.

Fotos: Gruner&Graf

Das interessiert mich natürlich auch. Als Bildhauerin fallen mir dazu als erstes die figürlichen Darstellungen aus den 1920-1940er Jahren, die von den Leiden der beiden Weltkriege geprägt waren. Die Kauernden, Zögernden, Stürzenden, Gefesselten, Fallenden, Verdrehten, Sich Windenden und Gekreuzigten, die im Realismus die bewegendsten Formulierungen von existierenden und aufbrechenden Körperpanzern gefunden haben. 

Nunja,  über Graffiti habe ich nicht viel zu sagen. Und von Mansplaining haben wir im Moment beide genug. Was tun, da wir ja nichts erklären wollen?Meistens ist es gut, erst einmal einen peinlichen Moment zu schaffen, aus dem man sich dann gemeinsam befreien kann.“

Fotos: Gruner&Graf

STREIFZÜGE

29.10. – 18:00 +++ Abteilung Größenwahn +++

OTELO ÜF PARADIS – Graffiti als Skript, Stadt als Handlungsanweisung. Wir setzen einen hypersensiblen Verkörperer und einen abgebrühten Dramaturgen auf die Straße an. Mit: Christian Tschirner und Maximilian Brauer

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30.10. – 15:00 +++ Abteilung Reviermarkierung +++

WUFF IFC KATDOG – Wie setzen wir Zeichen und welcher Zeitlichkeit sind sie unterworfen? Die Stadt explodiert vor markierten Revieren. Wo befinden wir uns zwischen all diesen Codes? Und was lässt sich davon bewahren? Ein Schweifen zwischen den Schaufenstern, Blumenkübeln und öffentlichen Bedürfnisanstalten  mit dem Bildhauer Wilhelm Klotzek und der Kunsterhalt-Forscherin Anna Schäffler.

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31.10. – 15:00 +++ Abteilung Pfeilspitzen +++

→ * „ o “ ! – wir schauen uns das Beiwerk von Graffiti an. Kronen, Heiligenscheine, Gendersternchen, Gänsefüßchen. Was erzählen diese Schmuckelemente und Verzierungen uns über ihre Urheber*innen, über das Verhältnis von Graffiti zu Werbung und Typografie und über uns selbst? Mit: Thomas Lindenberg (Performancekünstler und Übersetzer) und Matthias Hübner (Gestalter und Verleger).

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5.11. 18:00 +++ Abteilung Sinnleere +++

SOLID SLUGG GRAMO – Viele sagen, Graffiti könne man nicht lesen. Wie ein Schleimpilz verkleben sie die Oberflächen und ihre Rhizome durchziehen die ganze Stadt. Dabei ist ein Wille nach Wiedererkennbarkeit und Verstanden-werden-Wollen nicht zu leugnen. Aber zielt Handschrift tatsächlich auf Lesbarkeit? Und wie können wir trotzdem lesen, wenn wir nichts verstehen? Jana Slaby ist Fotografin und beschäftigt sich mit den Aggregatzuständen von Materie, Philosoph Christian Driesen hat über das Formlose nachgedacht und eine Theorie der Kritzelei geschrieben.

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6.11. 15:00 +++ Abteilung Kriegsspiele +++

VATR RETRO PLAYR – Auf dem Gelände der ehemaligen Kaserne der berittenen Armee spüren wir den aufdringlichen Kriegsmetaphern von Graffiti nach. Anna Herms erschafft Bilder aus Text und Ton, sie trifft auf Christoph May, Graffitiautor a.D. und kritischer Männerforscher.

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7.11. 15:00 +++ Abteilung Tafelbilder +++

PALMENPOWER IN SILBER UND SCHWARZ – Wenn die Stadt das einzig wahre Graffitimuseum ist, welche Displays repräsentieren die Ausstellungsstücke hier, welche Ordnungen bietet die Straße, um Graffiti zu kontemplieren? Welche Art der Vermittlung wird uns gegeben? Wie finden wir uns zwischen den Abteilungen zurecht? Wer beschützt die Ausstellungsstücke, welche Sichtachsen werden uns angeboten? Fragen, die sich auch der Museologe Lukas Fuchsgruber und der Künstler Max Stocklosa gestellt haben.

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12.11. 18:00 +++ Abteilung Gesamttext +++

DÖNER VERY BOSS 89 – Der Gesamttext Graffiti ist blau. Er ist unendlich und romantisch, aber auch voller Lücken, Geheimgänge und Mehrfachbedeutung. Seine Lektüre birgt das Risiko, den Glauben an die Wörter zu verlieren. Mit der Übersetzerin Lena Dorn und der Camouflagistin und Metagraffitiartistin Coco Bergholm begegnen wir Graffiti im dunklen Kreuzberg mit den Augen der Projektion und dem Kescher der Sprache.

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14.11. 15:00 +++ Abteilung Erinnerungslücken +++

+-0 SOCKE BIO – Graffiti sind in aller Öffentlichkeit, knapp protokollierte, private Geschichten, Ein-Wort-Biografien. Sie fungieren als Assoziation, archimedischer Punkt, Aroma – durch die Zeit. Jede und jeder von uns hat seine eigene Story mit einzelnen Zeichen. Das Künstlerduo SISKA & Franziska Pierwoß erzählt sich und uns anhand von Graffiti ihre persönlichen Lebensgeschichten. Lernen wir uns neu kennen.  

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